„Wir haben einen großen Bedarf an Leseförderung“
Das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen
25.11.2010
Dr. Simone C. Ehmig, © Stiftung Lesen
Frau Dr. Ehmig, Sie leiten das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen. Wie kam es zur Gründung des Instituts?
Ehmig: Das Institut wurde gegründet, weil die Relevanz der Forschung für die Leseförderung immer offenkundiger wurde. Man erkannte, wie wichtig Begleitforschung ist, um herauszufinden, wie effektiv die Projekte in der Leseförderung tatsächlich sind und wie man sie noch optimieren kann. Zugleich geht es um Grundlagenforschung, um überhaupt zu sehen, wo die Probleme liegen, wen man ansprechen muss und wie man ansetzen kann.
Welche Aufgaben hat das Institut?
Ehmig: In der Grundlagenforschung berücksichtigen wir alle Aspekte, die mit dem Lesen und der Nutzung von Medien zusammenhängen. Begleitforschung betreiben wir auf zwei Ebenen: Zum einen evaluieren wir komplette Förderprogramme und Konzepte, um festzustellen, ob und wie sie funktionieren. Zum anderen evaluieren wir Einzelprojekte.
Welche Projekte stehen im Mittelpunkt Ihrer Arbeit und was soll mit ihnen erreicht werden?
Ehmig: Im Bereich der Grundlagenforschung sind es vor allem Studien zur Situation des Lesens, der Leseerziehung oder des Vorlesens. Im Jahr 2008 führten wir beispielsweise eine große Repräsentativbefragung zum Lesen in Deutschland durch. Seit 2007 untersuchen wir zusammen mit der Deutschen Bahn und der „Zeit“, wie es um das Vorlesen in den Familien bestellt ist. 2007 haben wir Väter und Mütter befragt – mit dem Ergebnis, dass ein beträchtlicher Teil nicht oder nur gelegentlich vorliest. Eine Befragung von Kindern 2008 förderte das Problem zutage, dass Väter nur selten vorlesen und damit v.a. Jungs oft keine (Vor-) Lesevorbilder in ihnen haben. 2009 haben wir nicht vorlesende Väter nach den Gründen gefragt und sind auf klare Rollenvorstellungen gestoßen. In diesem Jahr standen Eltern mit Migrationshintergrund im Mittelpunkt, bei denen wir ähnliche Verhaltensmuster sehen wie bei deutschen Vätern und Müttern – aber auch gelernt haben, wie differenziert man auf Herkunftsländer, Bildungsniveau usw. achten muss, wenn man an Maßnahmen der (Vor-) Leseförderung denkt. Generell beschreiben wir mit den Grundlagenstudien das Lese- und Vorleseverhalten. Diese Ergebnisse betten wir in den Kontext der Mediennutzung insgesamt ein.
Bei den Evaluationsstudien liegt der Schwerpunkt auf der Wirkung bzw. der Wirksamkeit von Maßnahmen. Gerade im medienpädagogischen Bereich ist es wichtig zu wissen, ob das, was wir denken, dass wir tun sollten, auch zu dem führt, was wir erwarten. Deswegen begleiten wir zum Teil auch über längere Zeiträume Maßnahmenpakete. So beobachteten wir über zwei Jahre hinweg von der Stiftung Lesen initiierte Lese- und Medienclubs in zehn Schulen in Deutschland und in zehn Schulen in Israel. Lese- und Medienclubs bieten jenseits des Unterrichts Kindern und Jugendlichen, vor allem aus schwierigen Verhältnissen, einen Freiraum dafür, mit Lese- und anderen Medien umzugehen und darüber einen Zugang zu einer ausgewogenen und vernünftigen Mediennutzung zu finden. Diese Studie zeigt sehr genau, welche Effekte die Clubs auf das Leseverhalten und die Lesemotivation, aber auch auf das Lernverhalten haben. Noch weitreichender und vermutlich nachhaltiger sind Wirkungen auf das soziale Verhalten, das Selbstbild und das Selbstvertrauen dieser Kinder. Andere Schwerpunkte von Evaluationsstudien sind beispielsweise Zeitungs- und Zeitschriftenprojekte, die Verlage in Schulen durchführen. Wir können damit differenziert feststellen, was es bringt, wenn Schulklassen über einen bestimmten Zeitraum hinweg mit Zeitungen oder Zeitschriftenpaketen beliefert werden.
Wie hat sich das Leseverhalten in den vergangenen Jahren verändert?
Ehmig: Bei Erwachsenen gibt es Veränderungen vor allem in den Lesestrategien. Es gibt zunehmend Personen, die Bücher nicht mehr von vorne bis hinten ganz lesen, sondern sie durchblättern und an bestimmten Stellen wieder einsteigen. Oder es gibt Personen, die zeitgleich mehrere Bücher lesen und dann je nach Situation hin und her wechseln. Diese Muster dürften zum Teil durch die Nutzung anderer, v.a. digitaler Medien beeinflusst sein, denen sich auch das Lesen gedruckter Bücher anpasst. Keine Veränderung stellten wir z.B. bei den Viellesern fest. Das ist ein kleiner harter Kern, der konstant bleibt.
Ein Viertel der in Deutschland lebenden Personen liest gar keine Bücher. Allein diese Zahl zeigt, dass wir einen großen Bedarf an Leseförderung haben. Bei vielen Kindern und Jugendlichen sehen wir eine klare Distanz zum Lesen. Sie haben häufig einen leichteren Zugang zu den elektronischen Medien, zum Fernsehen, zum Computer u.a. Das Lesen steht in der Liste der Freizeitaktivitäten häufig weit hinten. Das liegt zum Teil an der Lesesozialisation in den Familien. Das Lesen genießt zwar einerseits eine sehr hohe Wertschätzung in der Gesellschaft – über 80 Prozent der Menschen meinen, dass Lesen die Entwicklung eines Kindes fördert –, tatsächlich setzen aber nur sehr wenige Eltern dies praktisch um. So nimmt nur etwa ein Drittel der Eltern Einfluss darauf, wie viel oder was ihre Kinder lesen.
Welche Rolle spielt bei der Veränderung des Leseverhaltens der Einfluss der digitalen Welt?
Ehmig: In der digitalen Welt treten mehr unterschiedliche Medien in Konkurrenz mit den klassischen Lesemedien. Dabei ist häufig aber auch Lesen gefordert, um v.a. digitale Medien nutzen zu können. In der Leseförderung muss es darum gehen, das Lesen in die komplexe Medienwelt, in der Kinder aufwachsen, zu integrieren. Es stellt sich dabei auch die Frage, wie man elektronische Medien in die Leseförderung einbeziehen kann. So untersuchen wir z.B. aktuell, wie E-Books bzw. E-Reader das Lesen für Kinder und Jugendliche attraktiv machen können, die niemals ein gedrucktes Buch in die Hand nehmen würden.
Generell hat sich mit dem Wandel der Medienlandschaft der Lesebegriff verändert. Deshalb verstehen wir als Stiftung Lesen das Lesen nicht nur im Sinne des Lesens von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften. Auch derjenige liest, der im Internet nach Information sucht, E-Mails schreibt und chattet. Auf den ersten Blick scheint es zwar etwas anderes zu sein und wir sprechen im Alltag auch kaum vom Lesen, wenn wir den Computer nutzen. Jedoch sagen uns Hirnforscher und Kognitionswissenschaftler, dass die Verarbeitungsprozesse grundsätzlich sehr ähnlich sind. Das heißt, wir werden uns auch in der Lese- und Medienforschung mit einem veränderten Lesebegriff auseinandersetzen und ihn vor allem methodisch – z.B. in der Durchführung von Befragungen – umsetzen müssen.
Welchen Stellenwert haben außerschulische Lesefördermöglichkeiten im Vergleich zur Leseförderung in der Familie?
Ehmig: Außerschulische und außerfamiliäre Maßnahmen können Defizite in der familiären Lesesozialisation ergänzen und kompensieren. Gerade in Familien mit einfachem Bildungshintergrund und mit niedrigem sozialem Status, in Familien, in denen die Eltern selbst nicht lesen und die Väter kaum vorlesen, gibt es Defizite, die man mit Maßnahmen, die in die Familien selbst hineingehen, nur bedingt lösen kann. Die Schulen setzen einen pädagogischen Schwerpunkt und konzentrieren sich naturgemäß v.a. auf Lesekompetenz. Ebenso wichtig aber ist Lesefreude und -motivation, die im schulischen Umfeld allein oft nicht vermittelbar ist. Deshalb ist es wichtig, noch an anderen Stellen für Kinder Anreize zu schaffen, sie mit dem Lesen in Kontakt zu bringen und ihnen Spaß daran zu vermitteln. Dazu ist die Vielfalt der Angebote, die es in Deutschland gibt, angefangen vom Kindergarten, über Bibliotheken bis zu privaten Initiativen eine gute Chance, Kinder zu erreichen, die sonst keinen Zugang zum Lesen finden würden.
Welche Rolle spielt für Ihr Institut die Zusammenarbeit mit Partnern?
Ehmig: Die Zusammenarbeit mit Partnern ist auf verschiedenen Ebenen sehr wichtig. Zum einen gibt es Partner, die wissenschaftlich mit uns kooperieren, beispielsweise in dem Projekt mit den israelischen Schulen das Center of Educational Technology in Tel Aviv. Ein anderes Beispiel für wissenschaftliche Kooperation ist der diesjährige 6. Round Table Leseförderung der Stiftung Lesen, den wir mit mehr als 30 Multiplikatoren aus dem Bereich der Leseförderung und Bildungspolitik in diesem Jahr in Ulm durchgeführt haben. Ausschlaggebend für die Standortwahl war ein sehr fruchtbarer Kontakt zu einer Gruppe von Kognitionswissenschaftlern und Hirnforschern an der Universität in Ulm. Der Round Table Leseförderung ist eine nationale Plattform, die sich seit 2005 jährlich mit spezifischen Aspekten der Leseförderung beschäftigt. In diesem Jahr stellten wir uns die Frage, was beim Lesen im Gehirn passiert. Viele Ergebnisse unserer eigenen Studien finden Entsprechungen in den Befunden der Hirnforscher. Sie belegen beispielsweise, dass Sprache besser verstanden wird und Kinder leichter einen Zugang zum Lesen entwickeln, wenn positive Emotionen im Spiel sind. Das bestätigt die Rolle der Lesefreude, die zentrales Ziel der Arbeit der Stiftung ist. Ähnliches sehen wir in unseren Untersuchungen zur Wirkung von Zeitungs- und Zeitschriftenprojekten in Schulklassen: Wenn Freude und Spaß dabei sind, wächst die Lust der Jugendlichen, mehr zu lesen. Vor allem aber fördert es ein positives Bild vom Lesen, das vermutlich nachhaltig in das spätere Erwachsenenalter hinein wirkt. Generell sind Kontakte zu Kollegen anderer Disziplinen sehr wichtig, weil sich unterschiedliche Perspektiven befruchten.
Auf einer zweiten Ebene bedeuten natürlich auch die Kollegen und Kolleginnen im Haus, die für den Bereich der Leseförderung zuständig sind, wichtige Partner des Instituts für Lese- und Medienforschung. Wir arbeiten Hand in Hand und verzahnen Leseforschung und -förderung eng miteinander. Eine Reihe von Projekten beinhalten sowohl den Forschungsblick wie die Förderperspektive. In einer aktuellen Studie zum ehrenamtlichen Vorlesen beispielsweise wechseln sich Phasen ab, in denen zunächst Grundlagenforschung, dann die Entwicklung von Maßnahmen und schließlich die Evaluation dieser Maßnahmen Schwerpunkte bilden.
Auf einer dritten Ebene sind Partner diejenigen, die uns finanzieren. Hier haben wir einerseits öffentliche Träger. Ein beträchtlicher Teil unserer Projekte wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert, andere von weiteren öffentlichen Trägern. In Einzelfällen haben wir Unternehmenspartnerschaften, z.B. wenn wir Projekte der Leseförderung evaluieren, bei denen die Stiftung Lesen mit Firmen wie Nestlé oder Arvato zusammenarbeitet.
Welche Vorhaben planen Sie für die Zukunft?
Ehmig: Das Institut für Lese- und Medienforschung ist ja noch relativ jung. Wir werden uns in Zukunft auf verschiedenen Wegen bewegen. Zum einen verstehen wir uns als eine Stelle, die Forschungsergebnisse bündelt. Im Sinne eines Kompetenzzentrums in Sachen Lesen wollen wir einen Überblick darüber gewinnen und Information bereitstellen, was auf dem Gebiet der Medien- und Leseforschung geschieht und welche Ergebnisse vorliegen. Zum andern werden wir uns in unseren eigenen Studien noch spezifischer als bereits in der Vergangenheit einzelnen relevanten Zielgruppen zuwenden. Dabei müssen wir uns sehr grundlegend mit dem Lesebegriff auseinandersetzen, ihn inhaltlich und methodisch stärker differenzieren und klären. Gerade in der Methodenentwicklung liegt für mich als Leiterin des Instituts eine vorrangige Aufgabe. Wir brauchen valide Messverfahren, um neue Entwicklungen in einer veränderten Medienwelt messen zu können. Wir wollen Bereiche in den Blick nehmen, in denen wir bisher noch nicht so aktiv waren, aber natürlich auch die bereits begonnene Forschungstradition weiterführen. Es ist sehr erfreulich für uns, dass wir mit bestimmten Maßnahmen das Image des Lesens gerade bei Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Umgebungen verbessern können, denn dies hat ein großes Nachhaltigkeitspotenzial und wirkt oft noch weit über das Ende eines Projekts hinaus. Wenn sich Kinder und Jugendliche später an ein Projekt positiv erinnern, werden sie auch als Erwachsene noch mit größerer Wahrscheinlichkeit zum Lesen kommen, als wenn das Lesen aus der Kindheit negativ oder gar nicht im Gedächtnis ist.
Dr. Simone C. Ehmig, Jahrgang 1964. Studium der Publizistikwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte in Mainz. 1989 Magister Artium mit einer Studie zur Einbindung von Politikerzitaten in Beiträgen des Nachrichtenmagazins der Spiegel. 2000 Promotion mit einer Arbeit zur Rolle prägender historischer Ereignisse für den Generationswechsel im deutschen Journalismus. Langjährige Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Universität Mainz sowie Publikationen und Vorträge zu Themen der politischen Kommunikation, Risiko- und Gesundheitsforschung, Journalismusforschung und Methodenentwicklung. 2007-2009 Leitung einer Abteilung für angewandte Forschung im Bereich Gesundheitskommunikation an der Università della Svizzera italiana Lugano. Seit 1.11.2009 Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen.
Interview: Petra Schraml, 25.11.2010
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